"A Moon Shaped Pool" ist das neunte Album von Radiohead. Und eines ihrer besten Alben seit dem großen Durchbruch mit "The Bends" und "OK Computer". Seit einer Woche läuft das Album nun schon auf Heavy Rotation in der Redaktion und der ersten kleinen Enttäuschung, dass das neue Album durchweg ruhig - fast schon unambitioniert - klingt, folgt nach und nach die Erkenntnis, dass es genau deshalb so herausragt.
Radiohead müssen schon lange niemandem mehr etwas beweisen und das wissen sie ganz genau. Wo alles um uns herum lauter, schneller, schriller wird, haben Radiohead genau den umgekehrten Weg eingeschlagen und werden leiser, gelassener, verträumter.
Teilweise erinnert das Album an die Zeit der großen Songwriter der 70er Jahre, an John Martyn oder an Tim Buckley. Und fällt damit völlig aus dem Rahmen gängiger kommerzieller Pop- und Rockmusik. Und natürlich scheint auch wieder die Liebe zu deutschen Krautrockbands wie Can oder Neu an vielen Stellen durch.
Bands, die damals gängige Songstrukturen und Konventionen einfach über Bord geworfen haben und statt die Musik in bestimmte Formeln einzusperren, sie einfach fließen ließen. Allesamt Bands und Künstler, die zwar kaum Platten verkauft haben, aber heute aufgrund ihrer künstlerischen Vision vielen Musikern als Helden und Vorbilder gelten. In dieser Tradition müssen Radiohead inzwischen gesehen werden, auch wenn sie viel eingängiger und berechenbarer bleiben, als die Avantgardisten von damals.
Das Experimentieren mit sämtlichen elektronischen Möglichkeiten des Studios überlassen Thom Yorke und Co. inzwischen wieder lieber anderen (zum Beispiel Moderat). Stattdessen jammen sie mit ihren angestammten Instrumenten im Studio und ergänzen die so entstandenen organischen Momentaufnahmen nach und nach durch liebevoll arrangierte Details, die das Album auch beim x-ten Durchlauf spannend bleiben lassen trotz seines ruhigen Grundtons.
Nichts an diesem Album klingt kalkuliert oder angestrengt. Und das dürfte zum großen Teil auch an Nigel Godrich liegen, dem langjährigen Produzenten von Radiohead, der längst zum sechsten festen Mitglied geworden ist.
Dass man Thom Yorkes vernuschelte Texte wie immer kaum versteht ist indessen völlig unerheblich. Seine Stimme ist nichts anderes als das Hauptinstrument der Band und auf den ersten Ton wieder erkennbar. Wer so singen kann, braucht genauso wenig einen Text wie eine Gitarre einen Text braucht. Radioheads "A Moon Shaped Pool" ist tatsächlich ein gut gewärmter musikalischer Pool, in den man sich reinlegen und aus dem man nicht mehr so schnell raus möchte.
Die deutschen Album-Charts im Stream
Radiohead - A Moon Shaped Pool - Track by Track:
1 Burn The Witch
Jetzt wo das Album endlich da ist, nimmt dieses erste, 25 Sekunden lange, Intro und die anfänglichen Gesänge eine ganz andere Bedeutung ein. Ein dramatischer Beat treibt den Song unentwegt nach vorne, es dröhnt und raunt im Hintergrund. Jeden Moment explodiert der Song, ganz bestimmt, Thom Yorkes Stimme geht so hoch wie die Brunftschreie von Michael Jackson zu seinen besten Zeiten. Ein vielversprechender Opener.
2 Daydreaming
Entschleunigung. Die zweite Single ist eine wunderschöne Nummer, mit einem traumhaften Video und das komplette Gegenstück zu "Burn The Witch". Sanft und dennoch aufwühlend ist "Daydreaming" ein musikalischer Tagtraum aus dem man lieber später als früher erwachen möchte.
3 Decks Dark
Zwei Pianomelodien überlagern sich, spielen unterschiedliche Rhythmen, darüber zieht Yorke einzelne Silben über vier, manchmal fünf oder sechs Sekunden. Ein Background-Chor setzt ein und verleiht dem Song fast etwas Sakrales und Thom Yorke ist der Heilige, der zu seinen Jüngern spricht. In der zweiten Hälfte gehen E-Gitarre, Bass und Piano eine wohlig warme Symbiose ein. Ein vorläufiger Höhepunkt.
4 Desert Island Disk
Eine Akustische läutet diesen Song ein. Es riecht nach Lagerfeuerromantik, irgendwie Radiohead-untypisch. Gänsehautbringende, fremdartige Soundfetzen schummeln sich im Hintergrund dazu, pirschen sich an und drängen von Sekunde zu Sekunde weiter nach vorn – behutsam und bedrohlich zugleich. Während Yorke "You Know What I Mean" mantraartig wiederholt, verdrängen die digitalen Klänge das warme analoge kurzzeitig komplett, nur um kurz darauf wieder das Feld zu räumen.
5 Ful Stop
Ein kaltes, grausames Maschinenklackern, eine laute Sirene heult unaufhörlich. Unter ihr geht der Gesang fast unter. Die Nummer hat etwas kaltes, etwas entfremdendes, bis das Schlagzeug einsetzt und die bösen Klänge langsam vertreibt. Es ist eine Schlacht, ein Kampf zwischen analog und digital und Yorke ist dabei mittendrin. Der vielleicht stärkste und prägnanteste Song des ganzen Albums.
6 Glass Eyes
Radiohead nehmen das Tempo wieder raus. Wie schon auf "Daydreaming" erklingen sanfte Pianoklänge. Eine Synthieschicht spinnt sich im Hintergrund zusammen. Eine dunkle Ballade, getragen von der hellen Stimme, den Streicherarrangements und einer traumhaft schönen Pianomelodie. Dystopie und Melancholie in Reinform, gespenstig schön.
7 Identikit
Schon mehrfach im Live-Programm aufgetaucht ist dieser Song. Wie viele der Tracks startet er mit einem Drumpart und ein paar E-Gitarren-Zupfer, bevor Yorkes fragile Stimme – mit wahnsinnigem Hall irgendwo weit in der Fremde – einsetzt. Man hört ihn kaum. Die Stimme im Nirgendwo bleibt die ganze Zeit über da und auf einmal ist Yorke nicht nur da, sondern auch ganz laut ganz weit vorn. Hier steht sein Gesang wie bei keinem anderen Song bislang im Mittelpunkt. Intensiv und mitreißend kommen im Refrain Synthielandschaften dazu. Eine beeindruckende gesangliche und produktionstechnische Leistung und das dritte richtig große Highlight des Albums.
8 The Numbers
Aus einem klanglichen Chaos bricht nach etwa 30 Sekunden eine Gitarrenmelodie aus, die uns durch den Songs geleiten wird. Sie ist der rote Faden der alles zusammenhält, auch wenn das Klavier ab und an mal rechts und links ausbricht, es findet immer den Weg zurück. Die vielleicht typischste Radiohead-Nummer, die man so oder ähnlich schon von der Band gehört hat. Also: schön.
9 Present Tense
Es wird wieder warm und akustisch. Verschiedenste Percussions begleiten die Gitarre. Es ist fast die roheste, unverfälscheste Version eines Radiohead-Songs. Die digitalen Spielereien fast komplett verbannt, spielt die Piano-Gitarre-Percussion-Kombination einen auffallend positiven und hellen Song auf einem bis dato dunklen, dystopischen Album.
10 Tinker Tailor Soldier Sailor Rich Man Poor Man Beggar Man Thief
Und das sind sie wieder: die digitalen Gadgets, die im letzten Song fehlten, kommen jetzt umso fetter zurück. Als müssten sie verpasstes wieder aufholen sind sie der Boden auf dem sich glasklare Stimme von Yorke entfalten kann, auf ihr lang gleitet, mit ihr spielt und einfach perfekt auf, in und mit ihr kombiniert.
11 True Love Waits
Schon oft im Liveprogramm gespielt haben Radiohead "True Love Waits" im Studio einzig und allein eine Pianomelodie verpasst. Der schwebende Abschluss eines starken Albums, dessen einzelnen Facetten man nicht nach ein oder zwei mal hören begreifen kann. Genauso wie man diese Band wohl nie gänzlich begreifen wird.
"A Moon Shaped Pool" ist das Album, das sich jeder Fan erträumt hat. Ein beeindruckendes Werk voller Mystik, dunklem, dystopischem Ambiente, facettenreichen Mid-Tempo-Songs und sphärischen Balladen. Und dennoch nicht kalt und abweisend. Ein Album ohne jegliche Ausfälle mit durchweg guten Songs, wenn auch ohne die ganz großen Hymnen, die Radiohead einst berühmt machten. Ein Album das wächst, je öfter man es hört, gerade, weil es so leise und ganz und gar unaufdringlich ist.
Radiohead spielen dieses Jahr auf dem Lollapalooza Festival in Berlin und wir können es kaum noch abwarten.
Das Album "A Moon Shaped Pool" von Radiohead ist ab sofort bei iTunes als Download sowie bei Apple Music als Stream erhältlich. Ob und wann das Album auf Spotify erscheint, ist noch nicht bekannt. Auf der Homepage von Radiohead sind außerdem unkomprimierte WAV-Dateien erhältlich. BBC6 spielte das gesamte Album in einem Special - aktuell die einzige Möglichkeit, das Album kostenlos zu hören.
Nicht enthalten auf dem Album ist der inoffizielle Bond-Titelsong "Spectre", den es hier als kostenlosen Download gibt.
Das Album erscheint am 17. Juni 2016 auf CD und LP. Auch Vinylfreunde dürfen sich freuen: Radiohead werden alle ihre Alben auf Vinyl neu veröffentlichen, sie sollen ab 20. Mai 2016 in den Handel kommen.