AnnenMayKantereit: Ich hör' hier keinen Punk

Warum die Kritik an AnnenMayKantereit übers Ziel hinaus schießt

Endlich wieder ein echtes Musikmärchen in Deutschland. Aus dem Rauschen im Blätterwald wurde zwischenzeitlich ein Sturm, jetzt ist das ersehnte Album endlich da. Mit ihm kamen harte Worte und offenbar der Wandel von der Band der Stunde zum Diss der Stunde. Warum eigentlich? Eine Spurensuche.

AnnenMayKantereit. Die Hoffnung der deutschen Musik. Erfolgreiche Newcomer ohne Album. Wie Könige ohne Land. Lob und Applaus von allen Seiten, die ganze lange Warterei hindurch. Und dann endlich kommt „Alles Nix Konkretes“. Je nach Zeitrechnung das erste (Presse) oder zweite (Fans) Album einer Band, die von Journalisten landauf, landab als das größte Ding seit dem Farbfernsehen bejubelt wird. Oder besser gesagt: wurde, denn offenbar ist es nun vorbei mit dem kollektiven Gutfinden. Viele Kritiken sind mäßig bis schlecht, die Sprache bissig bis gehässig. Liegt das wirklich an einem schlechten Album?

Um diese Behauptung zumindest anzuzweifeln sei gesagt: 5 der 12 Songs kannte man bereits vorher, von der „Wird schon irgendwie gehen“-EP oder als dem Album vorausgeschickte Singles. Es blieben also theoretisch noch 7 Tracks um einen Journalisten derart zu verstören, dass aus dem frenetischen „bravo“ der letzten Monate das aktuelle „geht so“ wurde.

Oft genug kann ich die Beweihräucherung von Bands nicht nachvollziehen. Die Kritik nicht zu verstehen ist zur Abwechslung auch mal ganz interessant. Warum hat diese trotzdem einen so komischen Beigeschmack? Weil sie unfair ist. Weil sie wie eine Strategie wirkt. Wie ein Werbefeldzug in umgekehrter Richtung. Von fehlender Rebellion ist zu lesen, von Langeweile, von angepassten Normalos in deren Welt nichts passiert. Kunst soll bitte sperrig sein, soll aufwühlen und anfassen und natürlich darf sie all das und noch mehr, weil Kunst alles darf. Die Frage ist nur ob sie es auch muss. Ist man zur Rebellion verpflichtet, wenn man Mitte 20 ist?

Der Spiegel schreibt von „Duselei statt Diskurs“ und zieht Vergleiche zu Klaus Lage und Revolverheld, die ZEIT vermisst Aufbruchstimmung und fragt gar „Haben die jungen Leute das verdient?“ Ich frage zurück: seit wann muss man eigentlich protestieren, nur weil man jung ist? Wann wurde Provokation zum exklusiven Inhalt zeitgenössischer Popmusik? Und muss man dann folgerichtig ab 40 zufrieden sein und Eric Clapton hören? Dummes Zeug.

AnnenMayKantereit spalten auch den Freundeskreis in Kritiker und Sympathisanten. Man kann sie lieben oder hassen, dazwischen scheint es nichts zu geben außer böse Blicke von der jeweils anderen Seite. Man wirft Mittzwanzigern vor, Geschichten zu erzählen aus dem Leben von Mittzwanzigern. Man fragt sie und sich warum das alles so problemlos und unpolitisch daher kommt, warum hier niemand aufbegehrt, das Maul aufreißt und Ina Müller auf den Tresen kackt statt dort brav und öffentlich-rechtlich zu singen.

Und jede dieser Fragen wäre berechtigt, würden die Fragesteller während des restlichen Jahres die Flagge zumindest halb so hoch halten. Statt dessen kommen diese süffisanten Anmerkungen gern von Leuten, die beim Thema Musik allzu oft schon mit sehr viel weniger zufrieden sind und den hier eingeforderten Punk an anderer Stelle nicht erkennen wenn er ihnen direkt vor die Füße kotzt.

Selbstverständlich kann man es banal finden, wenn noch nicht ausgepackte Kartons im neuen WG-Zimmer als Metapher für Einsamkeit und das Erwachsenwerden herhalten müssen. Frevert oder von Lowtzow hätten die eleganteren Worte gefunden. Natürlich darf man AMK in ihrer manchmal bierselig schunkelnden Art uncool oder den Sound und die Stimme einfach scheiße finden, das alles hätte in einem so subjektivem Feld wie der Musikkritik seine Berechtigung.

Aber darf man eine Band abstrafen, weil sie eher nach Element Of Crime klingt als nach Die Nerven, obwohl sie der Generation der letztgenannten entstammen? Man sollte niemandem sein Alter vorhalten oder ihn daran messen. Niemand muss bei Weinschorle und Carmen Nebel daheim sitzen weil er 50 ist und niemand muss die Anarchie ausrufen weil er 20 ist.

Es ist ein schwieriges Unterfangen, Beiläufiges und Nebensächliches ins Zentrum von Songtexten zu stellen. Das geht hier mal gut („Pocahontas“, „Barfuß am Klavier“) und mal schief („Das Krokodil“, „Neues Zimmer“). Man kann es als Alltagsbeobachtung loben oder als Unbeholfenheit abtun. Aber wenn ein Trio aus den Multimillionären Rihanna, Kanye & Paul sich in „Four Five Seconds“ ungestraft Freitag Nacht vom Elend der Arbeitswoche erholen darf, kann man die eigene Haltung zum Kritikpunkt „mangelnde Credibility“ gerne einmal grundlegend überdenken bevor man sich an einer ungelenken Formulierung aufhängt.

Was also ist los in deutschen Redaktionen? Hat man nach monatelangem Abfeiern erst jetzt richtig hingehört und alle Begeisterung war schlagartig dahin? Oder greift der Reflex namens „dagegenhalten“, der unter Kulturbeurteilenden gerne eintritt wenn jemand zu sehr gelobt wird? Ist es die Erkenntnis, sich zu früh gefreut zu haben oder der Wunsch, sich nach all den Vorschusslorbeeren als der eine tapfere Krieger hervorzutun, der gegen den Mainstream schwimmt?

Was immer der Grund sein mag sollte nicht die Grenze zwischen berechtigter Kritik und entfesselter Häme auflösen. Denn die Wahrung dieser Grenze ist es, die einen Kritiker ausmacht. Hinter dem, was wir mit wenigen Sätzen belohnen oder vernichten, steckt monatelange Arbeit und, im Falle ehrlicher Musiker, viel Herzblut, Hingabe und Liebe.

Ist „Alles nix konkretes“ ein fehlerfreies Meisterwerk, ein Meilenstein der Musikgeschichte? Nein. Ist es ein Kunstprodukt, glattgebügelt für den anspruchslosen Massenmarkt? Nein. Es ist das Album einer noch sehr jungen Band, die allem Hype zum Trotz gerade erst am Anfang steht. Sie durchschauen das Business schon heute besser als mancher Kollege nach 20 Jahren Karriere und scheinen von all dem Rummel erstaunlich und erfreulich unbeeindruckt.

Mit Henning May verfügen sie über einen Sänger für den andere Bands töten würden. Sie touren, schreiben, lernen und wachsen, nicht zuletzt an dem, was ihnen gerade widerfährt. Sie werden sich vermutlich den Medien etwas verschließen und sich die Wunden lecken. Und da sich das Album -ähnlich wie die Tickets zur laufenden Tour- verkaufen wird wie Kölsch am Rosenmontag, können sie der Kritik mit einem ebenso herzlichen wie gleichmütigen „Fuck you“ begegnen. Da ist sie dann also doch noch, die große Geste des Rock’n’Roll. Welch versöhnliches Finale.

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